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Bürokratieabbau – weg mit ISO
Die Rufe nach weniger Bürokratie werden lauter, und sie kommen nicht nur aus der Wirtschaft. Auch die Politik hat erkannt, dass sich Prozesse vereinfachen müssen, um Innovation und Effizienz zu fördern.
Mich hat das zu der Frage geführt: Könnte der Verzicht auf die Zertifizierung von QM-Systemen nach ISO 9001 ein Beitrag zum Bürokratieabbau sein?
Zertifiziert oder nicht, jede Organisation hat ein System aus Prozessen, um Kundenwünsche erfolgreich umzusetzen und daran zu verdienen – also ein QM-System. Zahlreiche Impulse von innen und außen zwingen Organisationen zur Optimierung ihrer Prozesse und somit ihres Systems. Angefangen vom Fachkräftemangel, über den technologischen Fortschritt, bis zu Änderungen rechtlicher Rahmenbedingungen. Diese Themen sowie der Umgang damit finden auch ohne jährliche Zertifizierungsaudits die notwendige Aufmerksamkeit.
Wer gut ist, braucht’s eigentlich nicht
Gut funktionierende Organisationen erhalten durch die Zertifizierung wenig Mehrwert. Wer seine Prozesse im Griff hat, klare Verantwortlichkeiten lebt und kontinuierlich an Verbesserungen arbeitet, kann auf die lobenden Worte von Auditor:innen verzichten. Für solche Organisationen ist die Zertifizierung keine Herausforderung, sondern ein relativ kostenintensives Auditritual, bei dem stolz die neuesten Verbesserungen präsentiert werden.
Im schlimmsten Fall treffen gut aufgestellte Organisationen auf schlechte Auditor:innen, die sich an Formalien klammern und in der Nachbereitung Blindleistung verursachen.
Das untere Ende der Normalverteilung
Es gibt jedoch auch schlecht organisierte Organisationen, bei denen man sich wirklich fragen muss, warum sie noch existieren. Oftmals liegt das an einer gesunden Untergrundorganisation, die trotz Führung den Laden am Leben hält.
In diesen Organisationen wird den QM-Beauftragten oftmals keine Aus- und Weiterbildung finanziert. Schließlich wird bereits in Beratung investiert – das muss reichen. QMBs pflegen Dokumente, für die sie nicht verantwortlich sind. Hauptsache, im Zertifizierungsaudit liegen die abgefragten Dokumente vor.

Fakt ist, dass viele dieser Betriebe seit Jahren zertifiziert sind, ohne dass sich Grundlegendes geändert hat. Wird im Audit doch mal eine Abweichung ausgesprochen, wird an der Krankheit herumgedoktert, ohne die Ursache zu kurieren.
Unterstützung durch Zertifizierung
Zwischen den beiden skizzierten Extremen gibt es die große Anzahl „bemühter Organisationen“, die nicht alle Prozesse gut im Griff haben. Diese könnten stark davon profitieren, dass jährlich eine gewisse Drucksituation entsteht, in der man gerne Verbesserungen am System demonstrieren möchte.
Solche Organisationen investieren gezielt in Schulungen, Beratung und Workshops. Externe Impulse sind willkommen, um innere Barrieren zu durchbrechen. Die oberste Leitung zeigt Engagement oder zumindest Interesse an aktuellen Verbesserungsprojekten.
Man kann nicht einschätzen, wie viele dieser Organisationen auch ohne das jährliche Zertifizierungsaudit ihre Organisationsentwicklung derart vorantreiben würden.
Was für alle Organisationen gilt
Mitarbeiter:innen beherrschen die aktuellen Verfahren und passen ihre tägliche Arbeit an Veränderungen an. Ohne den systemischen Blick durch z.B. Prozessanalysen, interne Audits oder den Blick aus der Vogelperspektive auf Wechselwirkungen können sich Prozesse in ungewollte Richtungen entwickeln. Oftmals fällt so etwas erst bei personellen Veränderungen auf. Es entstehen Wissenslücken oder Nachfolger:innen fällt es schwer, den Sinn hinter etablierten Vorgehensweisen nachzuvollziehen.
Es gibt „lästige“ (Norm-)Themen, deren Wegfall nicht zwingend zeitnah auffallen. Als Beispiel könnte hier die Prüfmittelüberwachung oder die Instandhaltung genannt werden. Da kann der jährliche „Kontrolltermin“ als extrinsische Motivation betrachtet werden. Doch braucht es dafür ein jährliches Zertifizierungsaudit?

Vielleicht würde weniger Zertifizierungsdruck sogar dazu führen, dass Unternehmen ihre Ressourcen nutzen, um sich freier und kreativer mit ihren Prozessen auseinanderzusetzen, statt nur an die Erfüllung von Anforderungen für das externe Audit zu denken.
Zu viele Normen verderben den Brei
Die Anzahl der Normen und Zertifizierungen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Es gibt nicht nur die Qualitätsnormen, sondern auch noch Zertifikate für Umwelt, Arbeitsschutz, Nachhaltigkeit, Energie und Datenschutz. Diese „Normenflut für Managementsysteme“ überfordert nicht nur kleine und mittelständische Unternehmen. Für einen gezielten Bürokratieabbau müsste daher das Normen- und Zertifizierungswesen insgesamt hinterfragt werden.
Schon oft kam mir der Gedanke, dass für alle Qualitätsthemen eine ISO 9001 ausreicht, wenn Auditor:innen die speziellen Anforderungen gewisser Branchen (Medizinprodukte, Automotive, Luft- und Raumfahrt …) angemessen berücksichtigen.
Die DAkkS legt noch einen darauf
Im IAF (International Accreditation Forum) werden internationale Vorgaben zur Zertifizierung festgelegt. Diese Umsetzung dieser Akkreditierungsvorgaben wird in den einzelnen Ländern durch staatlich beauftragte Organisationen überwacht.
In Deutschland ist das die DAkkS (Deutsche Akkreditierungsstelle). Leider neigt die DAkkS dazu, die Vorgaben zu überinterpretieren und zusätzliche Vorgaben zu machen, die es in keinem anderen Land dieser Erde gibt. Dem müsste dringend ein Riegel vorgeschoben werden. Jedoch finden solche Randthemen zu wenig Aufmerksamkeit, wie eine Petition von Stefan Wilke und mir im Jahr 2024 gezeigt hat.
In der Folge flüchten sogar deutsche Zertifizierungsstellen vor dem Bürokratiemonster und lassen sich im Ausland akkreditieren.
Wer nicht will, wird auch nicht
Fast alle Organisationen führen ein zertifiziertes QM-System nicht aus innerem Antrieb ein. Durch Kundenanforderungen, Branchenvorgaben oder aus rechtlichen Hintergründen werden sie gezwungen, sich z.B. nach ISO 9001 zertifizieren zu lassen.
Zwang kann ein schlechter Motivator sein. Also wird die Zertifizierung an QM-Beauftrage und Berater:innen wegdelegiert. Die Praxis zeigt, dass die Investition in Berater:innen und QMBs ausreicht, um den geforderten Nachweis zu erhalten. Warum sollte man über das Ziel der „ISO-Pappe an der Wand“ hinausschießen?

Wer kein Interesse an Qualitätsmanagement hat, wird sich auch durch Zertifikatszwang nicht langfristig verbessern. Umgekehrt: Wer überzeugt ist, dass ein lebendiges QM-System ein Wettbewerbsfaktor ist, findet auch ohne Zertifikate den richtigen Weg.
Ich höre schon den Aufschrei von Zertifizierungsauditor:innen und Beratungskolleg:innen. Sie werden schwören, dass durch ihre Begleitung zahlreiche Verbesserungen erzielt wurden. Niemand wird beweisen können, ob diese oder andere Verbesserungen nicht auch ohne ihr Zutun entstanden wären. Ich habe auch schon erlebt, dass Auditor:innen von erwirkten Veränderungen begeistert waren, diese aber innerhalb der Organisation nur aus Angst und ohne Nutzen umgesetzt wurden. Aber das ist ein ganz anderes Thema.
Ich bin tatsächlich hin- und hergerissen, ob der Wegfall der ISO 9001-Zertifizierung als ein Schritt in Richtung Bürokratieabbau wahrgenommen werden könnte. Zumindest in Deutschland würden gute Organisationen weiterhin besser werden und andere würden weiter vor sich hindümpeln.
Fakt ist, dass Kunden davon ausgehen, dass sie von zertifizierten Lieferanten bessere Ergebnisse erwarten, sonst wäre das ISO 9001 Zertifikat kein Kriterium. Ob es tatsächlich einen Kausalzusammenhang gibt, darf zumindest bezweifelt werden.