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Schildkröten im QM-System
Prozesse der Organisation
Fast jede ISO 9001 zertifizierte Organisation pflegt Dokumente, in denen Prozesse beschrieben werden. Diese Dokumente tragen verschiedene Bezeichnungen, wie etwa Verfahrensanweisungen, Prozessbeschreibungen oder SOPs (standard operation precedures) in Form von Flowcharts, Swimlanes, Fließtexten und Kombinationen daraus.
Am Anfang von QM-Projekten herrscht oft große Begeisterung beim Erstellen von Prozessdarstellungen. In den meisten Fällen verebbt diese Begeisterung und die verantwortlichen Führungskräfte, die sich jetzt Prozesseigner oder Prozessverantwortliche nennen dürfen, widmen sich nach der Freigabe wieder ihrem Tagesgeschäft.
Erst kurz vor dem nächsten externen Audit kommt der Appell von QM-Beauftragten, die visualisierten Darstellungen im Handbuch zu prüfen und bei Bedarf zu aktualisieren.
Mehr oder weniger aufwändig werden die Prozessbeschreibungen mit der Realität abgeglichen. Ein echter Nutzen ist oftmals nicht erkennbar, sodass viele Führungskräfte es als Zeitverschwendung betrachten.
Die Visualisierung von Arbeitsabläufen kann im Rahmen von Prozessanalysen wertvolle Erkenntnisse offenbaren. Von der ISO 9001 wird die Darstellung von Arbeitsabläufen jedoch nicht gefordert. Das ist für viele Personen im QM-Kontext überraschend, leider auch für manche QM-Beauftragte, Berater und Zertifizierungsauditoren.
Die ISO 9001 fordert, dass Prozesse gemanagt werden. Im Kontext von Prozessen empfiehlt die Norm, unterstützende Dokumente in einem Umfang bereitzustellen, sodass man sich darauf verlassen kann, dass Prozesse wie geplant durchgeführt werden.
Ein Prozess ist kein Flowchart
Man kann Prozesse mit Flowcharts visualisieren. Die Darstellung von Abläufen kann bei der Analyse, Optimierung oder Digitalisierung helfen. Sie können eventuell auch die Einarbeitung unterstützen oder Mitarbeiter an einst festgelegte Vorgehensweisen erinnern. Jedoch sind Flowcharts lediglich ein Werkzeug bei der Arbeit mit Prozessen.
Wenn es um das Management von Prozessen geht, hilft folgende Frage:
„Was tun gute Prozessverantwortliche, damit deren Prozesse verlässlich funktionieren?“
Und hier kommt die Schildkröte ins Spiel. Ihren Ursprung hat sie im VDA-Band 6 Teil 3, einem Branchenstandard zur Durchführung von Prozessaudits in der Automobilindustrie. Hier wurden die Fragen eines Auditkatalogs Themenblöcken zugeordnet, sodass als Ergebnis der Reifegrad zu diesen Themenblöcken errechnet werden konnte.
Diese Themenblöcke wurden in der Ausgabe aus dem Jahr 2000 so ähnlich wie hier auf der linken Seite dargestellt:

Erinnert Dich die linke Darstellung etwa nicht an eine Schildkröte?
Prozesse managen heißt, Führungsaufgaben umsetzen
Stellen wir uns eine gute Führungskraft vor, die für den Prozess „Beschaffung“ verantwortlich ist. Was tut diese Führungskraft, damit die Beschaffung verlässlich funktioniert und Qualität liefert? Hierzu betrachten wir die Themen des Turtle-Diagramms.
Prozessunterstützung: Sie sorgt dafür, dass das erforderliche Wissen nicht von einer einzigen Person abhängt. Sie wird den Mitarbeitern die Bedeutung von Qualität vermitteln. Sie kümmert sich um die Kompetenz aller Mitarbeiter, die an dem Prozess beteiligt sind, auch wenn ihr diese nicht disziplinarisch unterstellt sind.
Letzteres ist der Kernunterschied zum klassischen Abteilungsdenken. So kann es vorkommen, dass sich z.B. unsere Führungskraft aus dem Einkauf bei der Kollegin im Lager für Schulungen der Mitarbeiter im Wareneingang einsetzt, damit der Beschaffungsprozess funktioniert.
Materielle Ressourcen: Viele Führungskräfte jammern mit ihren Mitarbeitern über veraltete Ausrüstungen oder unergonomische Stühle. Gute Führungskräfte analysieren den langfristigen Nutzen von Investitionen in Ressourcen und setzen sich immer wieder dafür ein. Sie interessieren sich für die Möglichkeiten der eingesetzten Software (z.B. ERP-System) und testen z.B. den Einsatz von KI.
Wirkungsgrad: Statt dem gehorsamen Erstellen von Berichten für das Controlling, wird die Sinnhaftigkeit von Kennzahlen hinterfragt, verbesserte Kennzahlen oder andere Rückmeldungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Auswertungen und Kennzahlen sollen schließlich Informationen über die Effektivität und Effizienz des Prozesses bereitzustellen, um Veränderungen zu erkennen und eventuell die Wirksamkeit von Maßnahmen bewerten zu können.
Arbeitsinhalt: Die Dokumentation wird eigenverantwortlich erstellt und dem QMB überlassen. Idealerweise erfolgt die Entwicklung in Zusammenarbeit mit den am Prozess beteiligten Personen.
Systembeauftragte (QMB, SIFA …) werden zur Unterstützung eingebunden und eher als Beratungsfunktion genutzt. Schließlich reicht es, wenn der QMB die ISO 9001 kennt und verständlich erklären kann, welche verpflichtenden Rahmenbedingungen aus der Norm oder Kundenanforderungen zu berücksichtigen sind. Eventuell macht der QM-Beauftragte Vorgaben zur Dokumentation (CI, Form, Ablage …).
Input und Output: Prozessverantwortliche sind sich bewusst, dass ihr Prozess in ein Geflecht von Prozessen eingebunden ist. Änderungen am Prozess können Auswirkungen auf andere Prozesse haben. Diese Wechselwirkungen und Schnittstellen werden im Idealfall durch gute Vereinbarungen unter Kollegen zu Nahtstellen. Der Gesamtprozess steht im Vordergrund und alle (Teil-) Prozesse leisten ihren Beitrag.
Der bereichsübergreifende Ansatz ist die eigentliche Magie hinter der Prozessorientierung, die aus guten Führungskräften wirkungsvolle Prozessverantwortliche macht. Weg vom Kostenstellendenken, hin zum Blick auf den Gesamtprozess „Kundenauftrag“.
Prozessverantwortung bedeutet also sehr viel mehr, als einmal im Jahr, kurz vor dem Audit, die Verfahrensanweisung zum Prozess zu prüfen, anzupassen und erneut freizugeben.
Chancen und Risiken: Mit der ISO 9001:2015 hat dieses Begriffspaar Einzug in den Normtext erhalten. Hieraus kann eine weitere Aufgabe für Prozessverantwortliche abgeleitet werden. Ist der Schildkröte dadurch ein fünftes Bein gewachsen?
Zum Glück hat die Schildkröte einen Panzer, der die Chancen und Risiken wunderbar symbolisieren kann. Dahinter steht die Aufgabe, interne und externe Veränderungen im Auge zu behalten, um frühzeitig und angemessen agieren zu können.
Die Darstellung des „Turtle-Diagramms“ ist ein wertvolles Hilfsmittel zur Schulung von Führungskräften. Viele Organisationen nutzen eine an Turtle angelehnte Dokumentation, in der Prozessverantwortliche die für ihren Prozess wesentlichen Aspekte aufschreiben.
Darüber hinaus kann diese Dokumentation wiederum als Navigation im Rahmen eines prozessorientierten QM-Handbuchs dienen.




